Gedankenflug

Ich schau hinaus auf die weissen Dächer, die sich vor meinen Augen erstrecken. Es hat mehrere Stunden geschneit, die Welt liegt unter einer weißen Decke verborgen. Und ich sitze hier und habe gerade meine Gedanken an diese weiße Welt verloren. Sie lassen sich dort mit den Flocken treiben, die noch immer durch die Luft tanzen. Und sie treiben hinfort auf eine Reise durch die Zeit und durch den Raum.

Sie treiben in das Frühjahr, in die Zeit der grünen Buchen. Und dort sitzen sie, in den Wäldern meiner Kindheit, rund umgeben vom grün. Sie sitzen auf einem Baumstamm, der zu einer Sitzbank wurde, dort auf der Lichtung vor der alten Köhlerhütte. Dort wurde gegrillt, oder man hat nur in der Hütte gesessen und den Duft von hundert Jahren Ruß und Feuer geatmet. Es waren in der Nähe Hünengräber, tief verborgen im Wald und die Geschichten, die man gehört hatte, sie ließen einen in die tiefe und dunkle Vergangenheit gleiten. Als man noch Zauberei verwandte, um Geister zu vertreiben, und die Menschen, die vielleicht an dieser Stelle damals schon saßen, ihre Leben damit unterhielten, Holz zu schlagen und es den wenigen übrigen Menschen als Brennstoff zu liefern. Und es war nötig, denn die Winter waren bitterkalt und nur, wenn man an einem Feuer sitzen konnte, hatte man eine Chance, sie heil zu überstehen. Und so wurde jeder Grillabend zu einem Überlebenskampf. Die Stückchen Formfleisch waren gerade aus den selbsterlegten Tieren geschnitten, man konnte noch das Blut von der aufregenden Jagd in den Adern pochen hören und es schmeckte, als ob man tatsächlich sein Leben damit für einige weitere Tage erhalten hätte.
Später, wenn man noch eine Zeit auf der Ausschau nach Feinden durch den Wald gestreift war, dann wohnte man an einem der großen Felsen, aus denen die Hünengräber gänzlich zusammengesetzt schienen, dem feierlichen Begräbnis eines im Kampfe gefallenen Kameraden bei. Man zelebrierte eine Trauerfeier, die seiner würdig war und trug ihn zu Grabe und sein Gedächtnis im Herzen heim. Und noch heute ist es mir, als würde dort im Buchenwald, unter den Felsen der Gräber einer meiner engsten Freunde liegen und men Herz schmerzt, wenn ich an jene Tage zurückdenke.

Dann treiben meine Gedanken weiter, sie treiben in die Zeit der Heideblüte. Und dort sitzen sie in den Hügel der Heidegebiete südlich meiner momentanen Heimat. Sie liegen unter den Birken an den Hängen und schauen hinab auf die Sandwege, auf die Wanderer. Und sie sehen sich sebst im Mittelalter: und die Wanderer sind Handwerksburschen, die ihr Glück in der Welt suchen, selber ist man ein Künstler, ein fahrender Sänger. Und im Herzen klingen die tausenden Lieder wieder, die man schon auf die großen Fürsten gesungen hat, die man sang über den Frühling, über die Vögel, die in den Himmeln tanzen und über die Heide. Und wieder greift man zu Feder und Papier. Man schreibt über die Heideblüte, über das Sitzen unter Birken und die Düfte des Frühjahrs. Und man schreibt über die Menschen, über schöne Mädchen, die vorübergehen, lachend, scherzend. Meine Gedanken, die sich so wohlfühlen dort, die nicht wegwollen, sie weinen, wenn dieses Bild verschwimmt. Und doch fliegen sie weiter.

Sie kommen in die Zeit der grössten Hitze. Und dort sitzen sie auf den Mauern einer uralten Festung. Sie blicken hinab auf die Zypressen und die anderen Sträucher, die den Charme der griechischen Hügel ausmachen. Und in den verfallenen Gängen der alten Burg sehen sie die großen Könige gehen und ihren schönen Frauen kostbare Düfte und Steine bringen. Und sie sehen die Helden der großen Schlachten beieinander sitzen und ihre goldenen Rüstungen polieren und die selber stecken in einer und blasen in ein Horn zum Kampfe, worauf sich alle aufraffen und ihre Waffen ergreifen und sich vor den Toren versammeln. Und ihnen gegenüber das silberne Heer der Gegner. Dann treten die zwei größten Helden heraus, auf jeder Seite einer und beginnen einen Kampf, der für ihre Völker entscheidend sein soll. Und mitten in ihrem Kampf sind es die Königskinder die aufeinander zugehen und sich umarmen. Und damit ist der Kampf vorbei und die Völker versöhnt und das Horn erklingt als Zeichen der Versöhnung mit fröhlichem Klange. Und so verblassen auch diese Bilder und die Reise meiner Gedanken geht weiter.

Sie fliegen durch die Nacht, durch die Dunkelheit, hin zu einer sandigen Düne auf einer Nordseeinsel. Dort, in der Zeit der Spätsommersonne und der langen Abende, dort sitzen sie im hohen Gras in den Dünen, die dem eigentlichen Sandstrand nachgelagert sind. Hier, in den Wellen des Sandmeers, hier liegen sie am Abend. Hinter den Dünen liegen die Holzhäuser, in denen sie wohnen, sie sind ein Kind. Die Eltern Fischer, sie leben vom Meer und sind an das Meer gebunden. Und nichts ist schöner, als dort zu liegen, im Gras, auf das Meer hinter den Dünen zu blicken und sein stetiges Rauschen zu hören. Man träumt von wilden Stürmen dort draussen, man wünscht sich, dort zu sein, mit den Elementen zu kämpfen und so das Leben der eigenen Familie zu sichern. Man würde auf einem kleinen Kahn hinausfahren, eines Tages, und man würde die Stürme und die Wellen besiegen und man würde ihnen abringen, was man zum Leben braucht. Sie werden es einem geben müssen. Und irgendwann, wenn man dieses Leben über hat, dann würde man das Boot nehmen, seine Lieben und man würde hinaus fahren, immer hinaus in eine neue Welt, man würde Entdeckungen machen, fremde Länder sehen und irgendwo im Paradies ankommen. Und segelt man in den Träumen hinaus in den Sonnenuntergang, während man im Gras liegt, dort am Strand. Die Bilder werden undeutlich und die Gedanken fliegen weiter.

In der Zeit der großen Herbststürme sind sie nun wieder zurück auf den Feldern und Wiesen meiner Heimat. Die liegen brach. Die Ernte ist eingebracht, die Vorräte sind gut gelagert und bereit für den Winter, man hat Heu eingefahren und Kartoffeln gelagert, Karotten und Rüben. Bohnen sind eingemacht und Obst. Das Getreide ist gemahlen und das Mehl bereit zum Backen. Futter ist genügend da, es war ein reiches Jahr. Der Erntedank ist mit einem großen Fest gefeiert worden in diesem Jahr. Und nun sind die Felder und Wiesen bereit für den Winter. Die Geräte sind im Trockenen, Mensch und Vieh versorgt und nun gibt es einen letzten Kontrollgang zu allem eigenen Land, damit auch nichts vergessen wird und alles fertig ist für einen langen Winter. Die Blätter tanzen lustig um einen herum, während man auf den Wegen durch die Landschaft geht. Neben einem der kleine Sohn, der eines Tages all das erben wird und nun bereits in die Prozeduren und Geschäfte eines Bauern eingeweiht wird. Er kennt schon die Koppeln beim Namen und weiss die Landstücke auseinander zu halten. Er weiss, was man wo geerntet hat und was dort im nächsten Frühjahr neu ausgebracht wird. Und er kennt diesen Gang schon einige Jahre lang. Eines Tages wird er einen guten Ertrag von diesen Feldern holen und seine Familie ernähren können, wie man selber. Und so schreitet man zufrieden durch den Herbststurm. Die Blätter wirbeln um einen und verwischen die Bilder.

In der Zeit des stillen Schnees sitzen die Gedanken dann in einer warmen Hütte hoch im Norden. Sie sind zurückgekehrt von einem Kontrollgang, der sie zu ihren aufgestellten Fallen geführt hatte. Und sie haben die gemachte Beute mitgebracht, es wird ein Festessen geben heute. Sie freuen sich darauf, obwohl sie alleine essen werden, im Umkreis von 200 km gibt es keine weitere Seele. In der selbstgebauten Hütte sitze sie am kleinen Feuer und wären sich wieder auf, die Tierfelle, die als Mantel dienen, sie hängen nun an der Wand. Draussen ist es schon dunkel, nur wenige Stunden ist es um diese Jahreszeit hier überhaupt so hell, dass man irgendetwas erkennen könnte. Und nun beginnen wieder die kalten Winde um die Hütte zu fegen, sie bringen neuen Schnee mit, man wird am nächsten Morgen zunächst wieder einen Gang durch den Schnee bauen müssen, um überhaupt aus der Hütte zu kommen. Aber heute, heute wird es erstmal einen schönen Abend geben. Langsam kriecht die Wärme zurück in den Körper, man hört das Knistern des Feuers und die Winde, die an den Ecken der Hütte reißen. Und man denkt an die Familie, die im Frühjahr nachkommen wird, man wird eine Ranch aufbauen, man wird große Herden hier haben, das Land ist ideal dafür. Aber eben nur, wenn es Sommer ist. Und so freut man sich auf den Sommer, man schreibt ein paar Worte in sein Tagebuch und dann beginnt man mit der Zubereitung des Essens. Und in den Flammen des Feuers versinken die Bilder.

Dann kehren die Gedanken zurück. Sie gleiten wieder zurück über die weissen Dächer, zurück in meine kleine, warme Wohnung. Und ich weiss, dass sie nie aus meinem eigenen Kopfe verschwunden waren. Niemals.